Montag, 27. Februar 2012

Eine laaange Oscar-Nacht


Kolumne
Eine laaaaaange Nacht mit den Oscars

Vorhersehbar, ungerecht und ziemlich langweilig war die Veranstaltung im Kodak Theater dieses Jahr. Unsere Autorin Mirjam ist trotzdem wachgeblieben. Hier ihr Oscar-Tagebuch

Seit Jahren gehört es für Filmfans dazu, sich Ende Februar eine Nacht um die Ohren zu schlagen, um live zuzusehen, wenn in Los Angeles die Oscars vergeben werden. Große Stars, große Roben, große Emotionen: Da geht dem Filmfan das Herz auf. In diesem Jahr sorgten die Academy Awards aber schon vor der eigentlichen Verleihung für einiges Kopfschütteln. Gut, die größte anzunehmende Katastrophe – Eddie Murphy als Gastgeber – ist gerade eben noch an uns vorbeigegangen. Nach der missglückten Verjüngung mit der bemühten Anne Hathaway und dem bekifften James Franco besann man sich auf die glanzvollen alten Zeiten und engagierte zum neunten Mal Billy Crystal. Aufatmen im Fanblock: Der Mann ist eine Bank im Oscar-Zirkus.

Aber dann kamen die Nominierungen. Leider nicht für alle, die sie verdient hätten. Ich befürchte, die Academy hat vor ihrer Entscheidung unter den Stühlen Francos geheimen Gras-Vorrat aus dem letzten Jahr gefunden, anders kann man sich diese Liste nicht erklären. Nicht, dass die Oscars sonst so sehr durch Fairness und gerechte Entscheidungen auffallen, aber dieses Mal haben die Verantwortlichen den Vogel abgeschossen. „Drive“, der innovative, fantastisch erzählte, stylische Thriller des Dänen Nicolas Winding Refn blieb bis auf eine Nominierung in der Sound-Kategorie unerwähnt. Sogar der famos aufspielende Ryan Gosling ging leer aus. In Cannes war „Drive“ der Abräumer, für die Oscars scheint er schlichtweg zu europäisch zu sein. Gosling beeindruckte im letzten Filmjahr aber nicht nur als Stuntfahrer. Er brillierte auch in George Clooneys „The Ides of March”. Aber auch das Politik-Drama war außer für das adaptierte Drehbuch nicht auf der Liste zu finden. 

Außerdem: Michael Fassbender. Mit seinem furchtlosen Seelen-Strip in „Shame“ überzeugte er die Kritiker und gewann in Venedig die Coppa Volpi, für den Globe war er ebenso nominiert. Bei den Oscars? Keine Chance. Zu nackt und zu europäisch. Auch Elizabeth Olsen hätte man für das Sekten-Drama „Martha Marcy May Marlene“ gern auf der Nominierungs-Liste gesehen. Dafür hätten sie Rooney Mara streichen dürfen. Dass sie mit „Verblendung“ für die gleiche Rolle nominiert war, die letztes Jahr schon die Schwedin Noomi Rapace genial zum Leben erweckt hat, ist fast schon dreist. 

Ansonsten gab es zehn Nominierungen für „The Artist“. Und wie bei jedem anderen Preis, für den der französische Stummfilm nominiert war, war klar, dass er so ziemlich jeden davon mitnehmen würde, inklusive bester Hauptdarsteller, beste Regie und bester Film. Ist klar, ein Film, der auf harmlose Art und Weise und mit einem süßen Hündchen das alte Hollywood feiert, passt natürlich viel besser zum glamourösen Oscar-Image. Außerdem wurde er in den letzten Wochen so sehr zum „intellektuellen“, „besonderen“ und „außergewöhnlichen“ Filmereignis hochstilisiert, dass sich kein Kritiker mehr etwas anderes zu sagen traut. Und was die Preisverleihungen angeht: Ist ja auch viel praktischer einfach auf den fahrenden Zug aufzuspringen, als eigene – vielleicht sogar ungemütlichere – Entscheidungen zu treffen und etwa einen Film wie „Shame“ mit den Ehren zu bedenken, die er verdient. „The Artist“ mag ein netter, unterhaltsamer Film sein. Aber man kann schon den Eindruck bekommen, dass ihm, weil es halt grade so schön passt, völlig unreflektiert jeder Preis nachgeworfen wird. Übrigens schwelgt der Film zwar in der Aura, eine nette, kleine, französische Produktion zu sein. Dahinter steckt allerdings kein Geringerer als Harvey „The Punisher“ Weinstein mit seiner gigantomanischen PR-Maschinerie. Es wird sich in den nächsten Jahr(zehnt)en zeigen, ob „The Artist“ diese Lorbeeren verdient hat. Kann sich noch einer an „Shakespeare in Love“ erinnern? 

Was die anderen Favoriten angeht: „The Help“ firmierte als „Rassismus-Drama“, mit der Thematik ist der Streifen ein Selbstläufer, Octavia Spencers Sieg nur noch Formsache. Und „Hugo Cabret“? Hmmm, ich überlege noch.

Ob ich mich ohne Michael Fassbender und Ryan Gosling überhaupt mitten in der Nacht aus dem Bett quälen sollte? Irgendwie konnte ich es doch nicht lassen, ist ja fast schon Tradition.

Mein Oscar-Tagebuch:

1.00 Uhr: Der Wecker klingelt. Zur Hölle, was mach' ich hier eigentlich?, denke ich. Dieses Jahr ist die Verleihung ungefähr so interessant wie Schmökern im Telefonbuch, die Gewinner dürften klar sein (ca. 8 Trophäen für „The Artist“, den Rest teilen sich „Hugo Cabret“ und „The Help“, Beste Nebendarsteller: Christopher Plummer und Octavia Spencer). Na gut, jetzt bin ich schon wach, also mache ich mir einen Tee und schalte schon mal den Fernseher ein. Wow, Pro7 scheints ja zu haben: Annemarie Warnkross wurde nach Los Angeles geschickt und steht auf dem roten Teppich rum. Könnte man spontan als völlig überflüssig bewerten, wäre da nicht noch „Germany’s Next Topmodel“-Zweite Rebecca Mir. Die wurde aus Deutschland eingeflogen, um ganze zwei Minuten wie ein Zirkus-Pferdchen gekleidet und natürlich dauergrinsend völligen Nonsens in die Kamera zu plappern. Gut, dass wir das schnell hinter uns haben. Wir haben aber noch eine Fremdschäm-Chance: Wie jedes Jahr steht Steven Gätjen am roten Teppich und versucht, die Stars auf dem Weg ins Kodak Theatre zu interviewen. Mit George Clooney hat er gleich zu Beginn tatsächlich einen dicken Fisch an der Angel. Und siehe da: Seine neuen Aufgaben bei „Schlag den Raab“ und „Unser Star für Baku“ scheinen Gätjens Souveränität zuträglich zu sein. Große Aussetzer wie etwa letztes Jahr, als er verzweifelt versuchte, Sandra Bullock ein Statement zu „The Kings Speech“ abzuringen und damit den Bogen zu ihrer Mutter zu spannen (Bullock: „Ich würde dir ja gern helfen, Schätzchen, aber ich weiß einfach nicht, worauf du hinaus willst.“), blieben uns erspart. Da konnte man es auch verschmerzen, dass er eindeutig zu viel Zeit auf die deutschen Nominierten (Wim Wenders für die beste Doku, zwei nette Studenten für den Kurzfilm) vertrödelte, Rooney Mara die selben Fragen zu ihrer Rolle in „Verblendung“ stellte, die sie schon seit Monaten beantwortet, und angesichts Sandra Bullocks Präsentation des Auslands-Oscars zu spekulieren, ob die Gute eventuell mal wieder deutsch spricht.

1.30 Uhr: Pro7 trifft die bestmögliche Entscheidung und schaltet direkt zur Pre-Show des US-Senders ABC. Annemarie und Steven dürfen die Werbepausen füllen. Rebecca ist weg. Man vermisst sie nicht. Die Stars erzählen hauptsächlich, wer ihnen ihr Kleid und den Schmuck geliehen hat.

2.30 Uhr: Lasset die Spiele beginnen. Mit einem launigen Einspieler der Billy Crystal mal mehr, mal weniger originell in Szenen der nominierten Filmen zeigt, wird die Show eröffnet. Dann betritt der Maestro die Bühne und lässt mit einem Song über die nominierten Filme richtiges Oscar-Feeling aufkommen.

2.45 Uhr: Überraschung: Die ersten Preise für „Hugo Cabret“ und „The Artist“.

3.00 Uhr: Sandra Bullock präsentiert den Oscar für den Besten fremdsprachigen Film – und zwar auf deutsch. Steven Gätjen wird aus dem Häuschen sein.

3.10 Uhr: Christian Bale überreicht Octavia Spencer die Trophäe als beste Nebendarstellerin. Sag ich doch. Mir ist langweilig. Octavia freut sich, als hätte sie gerade ein Wundermittel gegen Krebs entdeckt.

3.20 Uhr: Mehr lustige Einspieler. Ob die Produzenten wissen, wie öde die Show ansonsten wäre?

3.24 Uhr: Wieso trägt Bradley Cooper einen Schnurrbart? Und wieso war noch mal „Verblendung“ nominiert? Wie auch immer, der Film, den es schon gibt, bekommt den Peis für den besten Schnitt. Ich setze noch mal Teewasser auf.

3.25 Uhr: Der Preis für den besten Sound geht an „Hugo Cabret“. Dass „Drive“ seine einzige Nominierung in dieser Kategorie bekommen hat (und dann noch nicht mal gewinnt), ärgert mich erneut über die Maßen. Hab ich noch Wein? Lieber nicht, ich muss mich noch zwei Stunden wach halten. 

3.34 Uhr: Hey, Kermit und Miss Piggy! Gut sehen sie aus. Und sie sagen den Auftritt des Cirque du Soleil an. Ein riesiges Aufgebot an Artisten legt eine beeindruckende Show hin, während im Hintergrund berühmte Filmszenen zu sehen sind. 

3.40 Uhr: Robert Downey Jr. spielt Gwyneth Paltrow sogar bei der Präsentation für den besten Dokumentarfilm an die Wand. Der Mann reißt mich aus meiner Lethargie. Der könnte doch auch mal moderieren! Wim Wenders’ „Pina“ geht übrigens leer aus. Der erste Satz des Gewinners: „This is ridiculous!“ Wow, könnte der Satz des Abends werden. 

3.45 Uhr: Ui, im Publikum erspähe ich die unfassbar gebotoxt aussehende Cameron Diaz nebst P. Diddy, wenn das mal kein Futter für die Klatsch-Spalten gibt. Und „Rango“ gewinnt den Preis für den besten animierten Film. Wer, fragen Sie sich? Ja, ich mich auch …

3.57 Uhr: Christopher Plummer gewinnt verdient. Keine Überraschungen weit und breit.

4.16 Uhr: Zach Galifianakis und Will Ferrell vergeben den Oscar für den besten Song. Es sind nur zwei nominiert, einer davon ist „Man or Muppet“ aus dem Muppets-Film. Es ist äußerst bedauerlich, dass in diesem Jahr auf die Live-Auftritte verzichtet wurde, denn das Duett von Jason Segel („How I Met Your Mother“) und Jim Parsons („Big Bang Theory“) hätte der Veranstaltung wirklich gut getan. Der Muppets-Song gewinnt. Unter uns: Der Film war ganz zauberhaft, aber DAS soll der beste Filmsong des Jahres gewesen sein? Es muss wirklich schlecht stehen um die Filmmusik-Branche. 

4.24 Uhr: Angelina Jolie entert die Bühne. Während ihrer Rede drapiert sie sich so verkrampft vors Mikro, damit man unter ihrer aufgebauschten Robe noch ihr knochiges Bein sehen kann – prompt wird die Pose von Alexander Paynes Co-Schreiber imitiert, der sich den Oscar fürs beste adaptierte Drehbuch abholt: Endlich der erste Preis für „The Descendants“. Den Preis fürs Originaldrehbuch bekommt Woody Allen für „Midnight in Paris“. Der Meister glänzt wie üblich durch Abwesenheit.

4.38 Uhr: Die „Brautalarm“-Damen übergeben den Oscar für die besten Kurzfilme. Allerdings nicht an die deutschen Abgesandten. Melissa McCarthy hätte man selbst gern mit der Trophäe gesehen. Aber wer in der Anarcho-Komödie „Brautalarm“ ins Waschbecken macht, hat gegen das Rassismus-Drama „The Help“ natürlich keine Chance.

4.50 Uhr: Der Oscar für die beste Regie geht an: Michel Hazanavicius für „The Artist“. War ja klar, ärgert mich trotzdem, ich hatte Alexander Payne die Daumen gedrückt. Vielleicht lag unter den Stühlen der Academy doch nicht James Francos Gras, sondern ein Geldbündel von Harvey Weinstein?!

4.58 Uhr: Die Preisträger der Ehren-Oscars werden beklatscht. Im Publikum entdecke ich Albert und Charlène von Monaco. Wenn sie das mit dem glücklich aussehen noch ein wenig übt, bekommt sie den Preis eines Tages selbst.

5.18 Uhr: Ach ja, als hätten wirs gewusst. Der Hauptdarsteller-Oscar geht an Jean Dujardin. Der einzige Trost ist, dass George Clooney sicher noch öfter auf der Nominierungsliste stehen wird. Ich bin einigermaßen genervt. So vorhersehbar waren sogar die Oscars selten. Dauerts noch lang?

5.28 Uhr: Ich werde noch mal wach. Auch keine Überraschung, aber trotzdem Grund zur Freude: Meryl Streep gewinnt als „Eiserne Lady“ ihren dritten Oscar. Und ihr werde ich noch den 17. gönnen. Alle anderen offenbar auch, die Nominierungs-Rekordhalterin bekommt Standing Ovations.

5.32 Uhr: Tom Cruise darf den besten Film vorstellen. Na sowas! Und um der Vorhersehbarkeit dieser Nacht die Krone aufzusetzen, ist der Gewinner: die Harvey-Weinstein-Corporation. 

Die Lehre aus dem Spektakel: Als Barometer für die besten Filme des Jahres taugt der Oscar in diesem Jahr so wenig wie schon lange nicht mehr. Dafür wurden viel zu viele fantastische Leistungen ignoriert. Na dann gute Nacht! 

Mirjam


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Also mir hat "The Artist" gut gefallen.

Anonym hat gesagt…

Ist ein nettes Filmchen, klar. Aber DER BESTE FILME DES JAHRES? In einem Jahr in dem geniale oder innovative Filme wie IDES OF MARCH, SHAME oder DRIVE nicht mal nominiert waren? Das ist ein Witz. The Artist war hübsch anzusehen, nett und tat keinem weh. Aber er ist wie Zuscherwatte, ohmne jgliche Substanz, Aussage und Tiefe ...und sie hat Recht. Genau wie bei Shakesoeare in Love wird in 5 Jahren keiner mehr Wissen, wieso dieser Film mit so unnötig vielen Preisen überhäuft wurde, während überlegene Werke leer ausgingen oder von der Academy ganz ingnoriert wurden!

Anonym hat gesagt…

KUDOS! Endlich mal jemand, der sich nicht in der endlose Lobhudelei für diesen Streifen einreiht! Hab schon gedacht sowas gibt es nicht mehr! Ich habe die Oscars immer geliebt. Dieses Jahr bin ich zum ersten Mal seit 10 Jahren vor Ende der Show ins Bett gegangen.